Versorgungskrise in Deutschland - wie konnte es so weit kommen?

07.05.2023 | Auch hier zu finden im Web

Gas
Energiekrise
Gasmangellage
Versorgungssicherheit

Debatten rund um die Versorgungssicherheit gab es in den vergangenen Jahren reichlich. Dass aber die Sorgen rund um Versorgungssicherheit kaum noch ernst genommen wurden, daran waren auch die Energieversorger selbst schuld. Zu oft und zu unreflektiert haben sie das Argument der Versorgungssicherheit gezogen, als dass man es noch ernst nehmen konnte – zu oft hatte man vor dem bösen Wolf gewarnt. Und wer das jetzt als Vertreterin oder Vertreter eines Energieversorgers entrüstet von sich weist, mag für sich persönlich vielleicht recht haben – mit Blick auf das Kollektiv der vielen Petras bzw. Peters der Branche sei nur leise daran erinnert, dass ernsthaft die Versorgungssicherheit der 2006er Fußballweltmeisterschaft in Deutschland infrage gestellt wurde, nachdem die Bundesnetzagentur 2005 erstmals Netzentgelte für die Übertragungsnetzbetreiber festgelegt hatte… Insofern ist es wahrscheinlich verständlich, dass in den letzten Jahren keiner mehr wirklich hinhörte, wenn die Energieversorger „Wolf!“ bzw. eben „Versorgungssicherheit“ riefen.

Wir, die Energieversorger, tragen die Versorgungssicherheit nicht nur als Monstranz vor uns her, sondern wir verschreiben ihr auch tatsächlich unser tagtägliches Arbeiten und richten uns nach ihr aus. Und insofern müssen wir uns mit Blick auf die energiewirtschaftlichen Ereignisse im Jahr 2022 schon die Fragen stellen (lassen): Wie konnte es so weit kommen – wie konnte Deutschland in so eine Versorgungskrise rutschen? Wie gut waren wir vorbereitet? Und natürlich: Was haben wir gelernt?

Wie konnte es so weit kommen?

Der Anteil der russischen Gaslieferungen an den deutschen Gasimporten lag vor dem Ukrainekrieg bei rund 50 %. Das wurde von allen gesehen und hier und da war das auch schon immer Anlass für Diskussionen, insbesondere nach dem russischen Landraub in der Ukraine 2014. Trotzdem wurde das nie zum Anlass genommen, wirklich etwas daran zu ändern, sich wirklich um eine Moderation dieser hohen Abhängigkeit von russischem Gas zu kümmern. Nach meiner Wahrnehmung ruhte diese Lethargie auf zwei sehr festen Säulen:

  1. Russland liefert verlässlich! Auch in den heißesten (bzw. wenn man es so sehen will: kältesten) Zeiten des Kalten Krieges hat Russland (bzw. damals die Sowjetunion) immer geliefert. Auch Ende 1998, als der Ölpreis bei 10 USD pro Barrel lag und der ölinduzierte Gaspreis extrem niedrig war, stand Russland immer zu seinen Lieferverträgen. Insofern bestand kein Zweifel daran, dass auf Energieebene Russland ein verlässlicher Vertragspartner war.

  2. Wir brauchen das Gas langfristig nicht mehr! Die langfristigen Programme zur deutschen Klimaneutralität zeigten es klar auf – langfristig sind wir eine Volkswirtschaft ohne fossile Energieträger und damit auch ohne Gas. Insofern waren Investitionen in eine Diversifikation der Gasbeschaffung, zum Beispiel über LNG-Terminals, nicht notwendig. Denn erstens – siehe Punkt 1 – liefert Russland immer und zweitens brauchen wir das alles ab 2050 (nein, 2045) (nein, 2040) nicht mehr. Wozu also sehenden Auges Stranded Investments aufbauen?

Diese grundsätzliche Logik des strategischen Weitblicks gab sich angenehm die Hand mit den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Diese beiden Säulen standen dabei auf dem Fundament der Überzeugung, dass „Wandel durch Handel“ funktioniert. Die mit den Gaslieferungen entstehende gegenseitige Abhängigkeit, von Kohle, Öl und eben Gas auf der einen und von Devisen auf der anderen Seite würden zu allzeit verlässlichen Gaslieferungen durch Russland führen, auch in härtesten Krisen.

Die Logistik und Infrastrukturkosten des Gasbezugs aus Russland sind viel günstiger als beim Bezug über LNG. Auch aus dem Markt heraus war eine Diversifikation des Gasbezugs wirtschaftlich nicht attraktiv. Weder strategisch noch wirtschaftlich gab es also eine Notwendigkeit, die hohe Abhängigkeit von russischem Gas zu reduzieren. Es war eben nur eine temporäre Phase, die man, mit Blick auf das sicher zu erreichende Zielbild der Klimaneutralität, gut aushalten konnte.

Ein Sprichwort sagt, durch ein gebohrtes Loch ist gut gucken. Einzelne Stimmen in der Energiewirtschaft wiesen 2021 auf die leerlaufenden Gazprom-Speicher hin und sahen auch die Einstellung des Gasverkaufs am Spotmarkt durch Gazprom kritisch (ich erinnere mich da an einige Diskussionen mit Ben Schlemmermeier). Die Mehrheit (auch ich) sahen diese Entwicklungen nur als kurzfristige Situation, begründet durch technische Probleme in den Gazprom-Anlagen in Russland. Was auch immer die Hintergründe für diese Änderungen in der Gazprom Geschäftspolitik gewesen sein mögen, im Ergebnis liegen sie in einer stringenten Eskalationslinie über den Angriff auf die Ukraine bis hin zum totalen Belieferungsstopp im Sommer 2022. Die Blindheit gegenüber den Entwicklungen des Jahres 2021 zeigt, wie tief die Glaubenssätze „Russland liefert immer!“ und „Bald brauchen wir kein Gas mehr!“ in Energiewirtschaft und -politik gingen.

Wie gut waren wir vorbereitet?

Tatsächlich war der Totalausfall der russischen Gasversorgung kein Szenario, auf das sich die deutsche Gasversorgung wirklich vorbereitet hatte. Nationale Gaskrisenszenarien waren eher der Natur, dass die Nord Stream 1 aus technischen Gründen für zwei oder drei Wochen ausfällt und alle, d. h. auch Gazprom, intensiv und gut zusammenarbeiten, um diese Krise zu bewältigen. Der dauerhafte Ausfall der Hälfte der deutschen Gasimporte war kein Szenario, dass in irgendeinem Krisenszenario ernsthaft vorgesehen war. Dass eine nationale Gasmangellage als nicht wirklich wahrscheinliches Szenario angesehen und vorbereitet wurde, zeigte sich wohl auch plakativ in dem Umstand, dass sich die als Krisenmanager vorgesehene Institution des Bundeslastverteilers ab März 2022 erst aufbauen musste.

Auf Verteilnetzebene waren die Vorbereitungen unterschiedlich. Aber wohl kaum ein Verteilnetzbetreiber hatte Krisenszenarien durchgespielt, die tatsächlich ein Herunterfahren des Gasnetzes bis auf „Null“ vorsahen. Auch wenn dieses Szenario des Totalausfalls immer noch sehr unwahrscheinlich war, so rückte es doch mit den Ereignissen des Jahres 2022 in den Bereich des denkbaren und damit vorzusehenden. Die allermeisten Gasverteilnetzbetreiber standen damit erstmalig vor der Aufgabe, für dieses extreme Krisenszenario alle Prozesse vorzubereiten.

Für die Netze BW GmbH bedeutete das zunächst einmal die Aktualisierung und vollständige Erfassung aller sogenannten „ungeschützten Kunden“, also Industriekunden, die im Falle des Falles als erste abgeschaltet werden sollten. Wir haben dabei auch denkbare Folgen einer Unterbrechung bzw. Einstellung der Gasversorgung bei diesen Aktualisierungen mit abgefragt. Auch wenn wir keine direkte rechtliche Verpflichtung sahen, derartige Folgen bei unseren Entscheidungen in der Bewirtschaftung einer Mangellage zu berücksichtigen, wollten wir für den Fall, dass wir tatsächlich noch operative Freiheitsgrade hätten, die Möglichkeit zu einer Schadensminimierung bei den Kunden haben – doch das würde nur mit Kenntnis über die Umstände funktionieren. Erstmalig haben wir begonnen, alle Netzgruppen der geschützten Kunden in eine Abschaltreihenfolge zu bringen – reine Wohngebiete zum Beispiel vor Wohngebieten mit Sozialeinrichtungen oder Krankenhäusern. Gerade weil die Abschaltung von geschützten Gaskunden eine besonders bittere Krisensituation gewesen wäre, war die ordentliche Vorbereitung angezeigt.

Im Fazit lässt sich feststellen, dass Krisenpläne, die auch die erzwungene, aber technisch sichere Kompletteinstellung der Gasversorgung inklusive aller Vor- und Zwischenstufen vorsahen, kaum vorhanden waren. Allerdings waren die deutschen Gasversorger auf einer „Metaebene“ sehr wohl vorbereitet. Alle Gasversorger unterhalten Organisationen, die sich ohne Probleme und Verzögerungen mit der über Nacht veränderten Lage auseinandersetzen konnten. Die Strukturierung und die Vorbereitung der Bewirtschaftungsprozesse, auch für die härtesten Gasmangellagen, konnte daher umgehend aufgenommen werden – und hatte bis zum Winter auch einen guten Stand erreicht. Insbesondere auf nationaler Ebene wurden diese Vorbereitungen allerdings bis heute nicht vollständig abgeschlossen!

Was haben wir gelernt?

So erfreulich es ist, dass die deutsche Energieversorgung gut durch den Winter 2022/2023 gekommen ist, so hat es doch eine gewisse Tragik, dass sich das „Peter-und-der-Wolf-Motiv“ damit wiederholt hat. Wieder haben die Energieversorger „Versorgungssicherheit“ gerufen und wieder ist eigentlich nichts passiert. Dies liegt zum einen ganz einfach an Glück – der Winter 2022/2023 war vergleichsweise mild. Letztlich zeigt sich hier aber auch die Tragik von erfolgreichem Krisenmanagement: Erfolgreiches Krisenmanagement verhindert die schlimmsten Krisen und stellt sich damit selbst in Frage. Mit großem, vor allem wirtschaftlichen Aufwand wurden beispielsweise bis Oktober 2022 die Gasspeicher auf 100 % befüllt – am Ende erschien das alles nicht wirklich notwendig gewesen zu sein.

Tatsächlich ist die Gesamtlage gerade in der Gasversorgung aber immer noch stärker risikobehaftet als in der Vergangenheit vor dem Ukrainekrieg und gebietet, die Vorbereitungen für eine energiewirtschaftliche Mangelbewirtschaftungen fortzusetzen. Die deutsche Gasversorgung hat zurzeit kaum eine Redundanz. Ein Ausfall einer der Übersee-Gastransportleitungen aus Norwegen, oder auch ein technischer Defekt in einer der wesentlichen Gasverteileranlagen in Europa (wie beispielsweise der Brand in Baumgarten 2017), würde wahrscheinlich auch im kommenden Sommer Deutschland in eine Mangellage stürzen. Zu bedenken ist weiter, dass wir die Speicher für den Winter 2022/2023 vor allem auch deshalb befüllen konnten, weil Russland bis zum Sommer noch Gas geliefert hat. Und schließlich erscheinen die technischen Probleme der französischen Kernenergie immer noch nicht ausgestanden – im März 2023 notierte der Strompreis für das Ganzjahrprodukt 2024 in Frankreich rund ein Drittel höher als in Deutschland.

Insofern ist es bedenklich, dass die Vorbereitungen zum Umgang mit einer Gasmangellage nicht abgeschlossen wurden. So gibt es bis heute (Ende März 2023) keine bundesweit ausgerollten Prozesse für die Zusammenarbeit und Kommunikation des Bundeslastverteilers mit den 600 Verteilnetzbetreibern in einer Gasmangellage. Auch die Frage, welche Unternehmen der Gruppe der „ungeschützten Kunden“ doch einen Schutzstatus erhalten sollten – Großbäckereien, andere Unternehmen der Lebensmittelindustrie, Pharma- oder Rüstungsunternehmen – ist weiter offen.

Aber auch in Bezug auf das große energiewirtschaftliche Bild muss die Frage nach einem Lerneffekt ernüchternd ausfallen. Auch wenn wir in Deutschland im tatsächlichen Umbau unserer Energiewirtschaft hin zu Klimaneutralität nicht in dem Tempo vorankommen, wie wir uns das vorstellen oder wünschen, benehmen wir uns so, als hätten wir die Umbauziele schon sicher erreicht. Wir wollen in Deutschland den Kohleausstieg bis 2030 beginnen und sehen diesen als möglich an, weil wir dann – 2030 – ja eine klimaneutrale Erzeugung haben werden. Wir haben gesehen, wie gefährlich ein Vorgehen ist, dass sich nicht real erreichten Fortschritt in der Energiewende ausrichtet, sondern an Konzepten. Der Kohleausstieg ist nur der eine, der vergleichsweise einfache Teil einer Energiewende – wichtig für eine sicherere Energieversorgung ist der Einstieg in eine klimaneutrale Erzeugung. Hier tun wir uns in Deutschland schon im ersten Schritt – mehr Wind und mehr PV, enorm schwer.

Die Ausrichtung auf Konzepte hat uns zur Fehleinschätzung der Bedeutung der Gasdiversifikation geführt. Das Muster droht sich beim Kohleausstieg zu wiederholen. Wir orientieren uns beim Kohleausstieg wie bei der Risikoeinschätzung unserer Gasversorgung an Zielbildern und nicht am tatsächlich erreichten Umsetzungsstand der Energiewende. Energiewende wie Versorgungssicherheit entsteht aber nicht dadurch, dass man fortwährend aussteigt – sie entstehen vor allem dadurch, dass man in etwas einsteigt.

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