Der deutsche Strommarkt hat andere Probleme als den nationalen Einheitspreis
01.08.2024 | Auch hier zu finden im Web
Der deutsche Strommarkt hat andere Probleme als den nationalen Einheitspreis
Dr. Christoph Müller
Veröffentlicht auf LinkedIn am 01.08.2024
Mit ihrem Aufruf „Der deutsche Strommarkt braucht lokale Preise“ haben zwölf Energieökonomen eine Lanze für eine Reform des deutschen Strommarktes gebrochen: Die „Einheitspreiszone Deutschland“ solle abgeschafft werden. Aktuell liegt der deutschen Strommarkt-Organisation eine „Kupferplatte“ zugrunde. Das heißt: Strom kostet überall dasselbe, völlig losgelöst von der tatsächlichen Erzeugungs- und Netzsituation vor Ort. Zieht eine kräftige Windfront über Deutschland hinweg, dann gibt es einen Strompreis, egal ob der Strom nun im Norden verbraucht wird, wo der Windstrom im Überfluss zur Verfügung steht, oder tief im Süden, wo er aufgrund von Netzengpässen gar nicht hingekommen ist, sondern teuer über konventionelle Kraftwerke vor Ort erzeugt werden muss. Besser, so die Argumentation, wären lokal unterschiedliche Preise, also ein günstiger Preis im Stromüberangebot des Nordens und ein teurerer Strompreis im erzeugungsseitig knappen Süden.
Wer sich nur oberflächlich mit dem Strommarkt beschäftigt, wird sich über diese Debatte wundern, denn die konkrete Lebenserfahrung der Stromkunden ist von einem Stromeinheitspreis weit entfernt. Wollen Sie sich bei einem Vergleichsportal die Angebote von Stromversorgern anzeigen lassen, dann müssen Sie Ihre Postleitzahl eingeben. Und wenn Sie damit spielen und einfach eine andere Postleitzahl wählen, sehen Sie, wie groß die Unterschiede sein können. Insbesondere das Netzentgelt und die Konzessionsabgabe variieren deutlich für die verschiedenen Städte und Regionen in Deutschland. Tatsächlich geht es bei der Debatte auch nur um die „reine Energie“, also wirklich nur um die am Großhandelsmarkt gehandelte Kilowattstunde. Allerdings wird gerade für die Industrie mit größeren Abnahmemengen die Bedeutung des reinen (Energie-)Strompreises in der Gesamtrechnung immer wichtiger.
Der theoretische Ansatz ist kaum zu beanstanden – und man wäre wohl auch mit dem Klammerbeutel gepudert, würde man dem Kreis der Energiewirtschaftsweisen unterstellen, ein nicht in sich stimmiges und zukunftsgerichtetes Konzept vorzulegen. In einer idealen Welt bilden Marktpreise die tatsächliche Knappheitssituation für das betreffende Wirtschaftsgut ab und das sollte auch für den Strompreis gelten. Wenn Nord-Süd-Transportkapazitäten nicht im erforderlichen Umfang vorhanden sind, dann sollte sich dies auch in den Preisen widerspiegeln. Aber das Problem ist immer das gleiche – man kann der Realität das theoretisch ideale Modell gegenüber- und als Zielbild voranstellen; man muss halt nur bedenken, dass man in der Realität startet. Und die Realität des deutschen Strommarkts ist an sehr vielen Stellen weit weg vom theoretisch perfekten Modell, so dass der Startpunkt erhebliche Auswirkungen auf den Weg zum Zielbild hat.
Das Signal tönt laut und deutlich
Man kann bedauern, dass der Einheitsstrompreis kein Marktsignal über die tatsächlichen Engpässe im Übertragungsnetz gibt. Es wäre aber falsch zu sagen, dass es gar kein „Signal“ für diese Engpässe gibt. Im Jahr 2023 liefen in Deutschland rund drei Milliarden Euro Kosten auf, um diese Übertragungsnetzengpässe aufzulösen – das ist ein Signal und es tönt laut und deutlich.
Dieses Signal ist auch nicht ohne Marktanbindung. Die Übertragungsnetzbetreiber orientieren sich bei der Auflösung der Engpässe grundsätzlich an der Merit-Order des Marktprozesses. Sie regeln also im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben die Erzeugungsanlagen mit den geringsten Entschädigungszahlungen und der besten Wirkung auf die Engpässe ab. Zum Ausgleich werden die günstigsten noch freien Kraftwerke angewiesen, ihre Leistung zu erhöhen. Diese grundsätzliche Marktorientierung zeigt sich auch darin, dass die Engpasskosten 2022 – in einem Jahr mit wirklich hohen Marktpreisen – mit rund vier Milliarden Euro deutlich höher waren als 2023, obwohl damals mehr Redispatch angewiesen werden musste.
Ein Kritikpunkt der Energieökonomen bleibt: Dieses Marktsignal zeigt zwar Handlungsbedarf zum Netzausbau auf, aber es beeinflusst natürlich nicht die Entscheidungen der einzelnen Akteure am Strommarkt. Und eine integrierte Optimierung – ob es jetzt besser ist, das Netz auszubauen oder auf eine Engpassauflösung durch den Einsatz von Flexibilität im Markt zu setzen – kann damit nur über einen regulatorischen Prozess und nicht aus dem Markt heraus angegangen werden.
Erst die Fundamente schaffen
In ihrer Forderung nach lokalen Preisen zielen die Experten im Kern darauf ab: Dezentral vorhandene Flexibilitäten werden durch die entsprechenden (lokalen) Strompreise angereizt. Die Experten bleiben aber ambivalent: Der Aufruf springt zwischen dem konkreten Beispiel der Auftrennung der (nationalen) deutsch-österreichischen Strompreiszonen, dem regionalen Ausgleich von Angebot und Nachfrage und lokalen Preissignalen hin und her.
Wollen wir lokale Preise haben, bedeutet das, die Prozesse des Strommarktes substanziell anzupassen. 900 Verteilnetzbetreiber, über 1.000 Lieferanten und auch noch einmal hunderte von Messstellenbetreibern müssen bei der Umstellung ihrer IT-Systeme koordiniert werden. Das wird Zeit brauchen. Viel Zeit – gerade hier kann das in dem Aufruf angeführte Beispiel für die konkrete Umsetzbarkeit von Preiszonenbildungen als Vorbild dienen: Die Auftrennung der deutsch-österreichischen Preiszone hat operativ ca. zwei Jahre gedauert – ohne Vor- und Konzeptdiskussionen in Branche und Politik. Unter dem Strich waren es wohl eher drei bis vier Jahre. Und dieser Marktgebietssplit gestaltete sich vergleichsweise einfach. Denn der Verlauf der österreichisch-deutschen Grenze war gegeben und es waren keine Anpassungen bei den Verteilnetzbetreibern oder anderen Massenmarktprozessen notwendig. Bei einer innerdeutschen Marktgebietsaufteilung ist der konkrete Zuschnitt deutlich komplexer und unter Umständen auch dynamischer als bei einer Staatsgrenze. Es wird also deutlich länger dauern, das Ganze in IT umzusetzen.
Mit Blick auf das Ziel des Aufrufs der Energieökonomen wäre daher wohl auch nicht die Einführung von lokalen (oder auch nur regionalen) Strompreisen der wesentliche nächste Schritt. Es ginge vielmehr darum, eine stabile und IT-seitig voll unterstützte Prozesskette aufzubauen. So ließen sich die dezentralen Flexibilitäten aus Wärmepumpen, Wallboxen und Batterien über die verschiedenen Marktrollen Netzbetreiber, Lieferant, Messstellenbetreiber, ggf. Aggregator und natürlich Kunde hinweg nutzen. Das theoretisch optimale Konstrukt „lokaler Preis“ benötigt optimale oder wenigstens operativ stabile IT-Landschaften, die es so noch überhaupt nicht gibt und so schnell nicht geben wird.
Wir sollten also nicht nach den Sternen greifen, sondern die richtigen Prioritäten setzen: Der erfolgreiche Smart-Meter-Rollout mit der einhergehenden Erschließung von Flexibilitätspotentialen ist ein sehr viel lohnenderes Ziel. Dies wäre im Übrigen auch eine notwendige Voraussetzung für die Zielerreichung des Aufrufs. Denn lokale Preiszonen brauchen lokal erschlossene Flexibilität.
Zu viele offene Enden
Für die zwölf Energieökonomen führen regionale/lokale Preise zu einer effizienteren Allokation des Stromverbrauchs. Sie erwarten im Norden eher günstige Preise, was zu einer Ansiedlung von energieintensiven Industrien führen soll – Mecklenburg wird attraktiv für die Wasserstoffherstellung, für Rechenzentren und grüne Stahlwerke. Die Gegenposition der höheren Strompreise im Süden (und der netztopologische Süden könnte durchaus schon in Münster beginnen) stellen sie im Gegenzug als nicht so dramatisch dar. Sie sähen nur moderate Preisunterschiede zwischen Nord und Süd von 5 bis 20 Euro/MWh und zudem würden die Netzentgelte sinken. Vor dem Hintergrund der konkreten Praxis des deutschen Strommarkts sind hier jedoch nicht alle Effekte berücksichtigt bzw. zu Ende gedacht.
So ist damit zu rechnen, dass die EEG-Bezuschussung steigt. Vereinfacht ausgedrückt erhalten EEG-geförderte Anlagen den Marktpreis für ihre verkaufte Energie, der durch öffentliche Mittel auf den definierten Fördersatz aufgefüllt wird. Ist der Marktpreis niedriger, ist mehr Förderung notwendig. Wird jetzt der deutsche Markt in zwei Preiszonen getrennt – gedanklich einfach einmal Nord und Süd –, wird auf den stochastischen Ausgleich zwischen Nord und Süd verzichtet. Eine Windfront muss dann in der nördlichen Preiszone abgewickelt werden, was zu niedrigeren Strompreisen führt. Gleiches gilt für eine Sonnenphase im Süden. Unterm Strich sind die resultierenden EEG-Förderzuzahlungen in Nord und Süd höher, wenn die Gebiete getrennt bewirtschaftet werden. Natürlich sehen die Stromkunden diese Erhöhung nicht, weil sie aus dem Staatshaushalt gedeckt wird. Für ein gesamtwirtschaftliches Optimum sollten wir diesen Effekt aber schon berücksichtigen, da er nach Berechnungen der Systemanalysten bei Amprion durchaus im Milliardenbereich und auch über den Einsparungen beim Redispatch liegen kann.
Die Redispatch-Kosten werden natürlich, wie im Aufruf aufgezeigt, sinken und entsprechend auch die Netzentgelte der Übertragungsnetzbetreiber reduzieren. Aber auch dieser Effekt verteilt sich nicht gleichmäßig über alle Kunden. Aufgrund der hohen dezentralen Einspeisungen in Nord- und Ostdeutschland hat das Übertragungsnetzentgelt dort einen deutlich geringeren Anteil am endgültigen Netzentgelt für die Stromkunden. Damit ist dann aber auch der Effekt einer Netzentgeltsenkung geringer. Die regionalen Unterschiede in der Entlastung liegen dabei in einer vergleichbaren Größenordnung wie die Strompreisdifferenzen bzw. können diese in manchen Verteilnetzen sogar übertreffen. Wer am Ende also was gewinnt und welche gesamtwirtschaftlichen Effekte sich tatsächlich aus einer Auftrennung des deutschen Einheitsstrompreises ergeben, sollte noch einmal weiter untersucht werden.
Die Solidarität in der Energiewende
Am Ende darf ein Punkt aus der Strommarkt-Praxis nicht unerwähnt bleiben: Wir gehen den Weg der Energiewende im Großen und Ganzen solidarisch. Die EEG-Förderungen sind über all die Jahre solidarisch von allen Haushalten, Gewerbe- und Industriekunden bundesweit in gleicher Weise getragen worden. Als in Folge des starken Erneuerbaren-Zubaus die Verwerfungen im Übertragungsnetz als zu heftig angesehen wurden, hat die Bundesregierung das bundeseinheitliche Übertragungsnetzentgelt eingeführt. Jetzt, wo wir auch bei Verteilnetzbetreibern zu starke regionale Betroffenheiten durch die Energiewende sehen, will die Bundesnetzagentur einen Unterstützungsfonds etablieren, der wiederum bundesweit solidarisch befüllt werden soll.
Da passt es nicht ins Bild, jetzt an einer Stelle den Weg der Entsolidarisierung zu beschreiten. Damit riskieren wir, dass der Grundkonsens der solidarisch getragenen Energiewende kippt. Der Süden und der Westen werden nicht begeistert sein, wenn sie von höheren Strompreisen getroffen werden, deren Einführung zu höher als notwendigen EEG-Subventionen aus dem gemeinschaftlich befüllten Bundeshaushalt führt und darüber hinaus noch Netzentgeltunterstützungen für nord- und ostdeutsche Verteilnetzbetreiber zu leisten sind.
Das Ergebnis zählt
Regionale oder lokale Strompreise sind ein theoretisch attraktives Konzept. Die theoretischen Effekte einer besseren Faktor-Allokation und einer Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Wohlfahrt sind unbestritten. Inwieweit sich diese in der Praxis einstellen, hängt dann aber vom konkreten Umfeld ab, in dem diese regionalen Strompreise umgesetzt werden. Bezogen auf den deutschen Strommarkt wird die operative Einführung ein IT-Projekt titanischen Ausmaßes. Die Kostenwirkung auf die Endverbraucher ist unklar und könnte sogar negativ sein, wenn Folgeeffekte aus der steigenden EEG-Subvention berücksichtigt werden. Und die verordnete Einführung regionaler oder lokaler Strompreise gefährdet den großen Grundkonsens, dass die Energiewende ein Projekt ist, das vom ganzen Land solidarisch getragen wird.
Regionale oder lokale Strompreise sind eine schöne Theorie und ein richtiges (sehr) langfristiges Zielbild, aber nicht der richtige nächste praktische Schritt. Wir sollten auf das schon vorhandene Signal der hohen Redispatch-Kosten hören und den Netzausbau vorantreiben. Darüber hinaus müssen wir uns darum kümmern, dezentrale Flexibilitäten digital steuern zu können. Das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für einen effizienteren Strommarkt, egal ob mit einem einheitlichen oder regional unterschiedlichen Preisen (Stichwort Smart-Meter-Rollout).
Wir können das Stromsystem nicht in einem Schritt umbauen. Daher sollten wir uns bei unseren Anstrengungen zum Um- und Ausbau hin zu einer klimaneutralen Strom- und Energiewirtschaft immer fragen: Welche Maßnahme bringt jetzt den höchsten Nutzen für unser Ziel der Klimaneutralität? Auch Transformationsprozesse funktionieren besser, wenn sie unter dem Gesichtspunkt eines gesamtwirtschaftlichen Optimums gestaltet werden. Dass eine komplexe Welt diese Aufgabe schwieriger macht, ist eine Binsenweisheit, die es aber zu berücksichtigen gilt. Das Ergebnis zählt: Ein klimaneutrales Stromsystem, ob mit einem Strompreis oder mit ganz vielen.
Wenn man mit den weißen Kleidern der Theorie in den Matsch des Strommarkts steigt, wird nicht der Strommarkt weiß und sauber, sondern die Kleider werden dreckig. Dennoch: Saubere Kleider wären schon mal wieder schön. 😉
(Foto: Amprion GmbH)
Dr. Christoph Müller
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