Maß nehmen für die Energiewende – von neuen Einsatzmöglichkeiten für den Xgen
22.05.2024 | Auch hier zu finden im Web
Maß nehmen für die Energiewende – von neuen Einsatzmöglichkeiten für den Xgen
Dr. Christoph Müller
Veröffentlicht auf LinkedIn am 22.05.2024
Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 22. September 2021 hat die Bundesnetzagentur eine deutliche größere Unabhängigkeit von politischen Einflüssen und gesetzlichen Vorgaben erhalten. Mit der letzten EnWG-Reform Ende Dezember 2023 wurde dies in nationales Recht umgesetzt, aber das war nur der erste Schritt. Der EuGH sah es als notwendig an, dass die wesentlichen Bestimmungen zur Regulierung des Zugangs zur Strom- und Gasnetzinfrastruktur dann auch von dieser unabhängigen Behörde gesetzt werden. Mit der Veröffentlichung des Eckpunktepapiers „Netze. Effizient. Sicher. Transformiert.“ (NEST) hat die Bundesnetzagentur diese Kärrnerarbeit mit Blick auf die Anreizregulierung, konkret die ARegV, begonnen.
Die Abkehr von der rechtlichen Ausgestaltung zentraler Elemente des Regulierungsrahmens durch den Bundestag hin zu einer eigenverantwortlichen Ausgestaltung durch eine Behörde ist eine Zäsur, die für die regulierten Netzbetreiber mit erhöhten Unsicherheiten einhergeht. Allerdings muss man anmerken, dass einem die Debatten der letzten Jahre rund um die Setzung und Anpassung der für die Regulierung wesentlichen Verordnungen im Bundestag bzw. teilweise auch Bundesrat eher als Lobby- denn als Fachdebatten in Erinnerung geblieben sind. Insofern ist dieser neue Prozess auch eine Chance, die Regulierung schneller und besser an die Herausforderung einer energiewendebedingt deutlich veränderten Versorgungsaufgabe anzupassen.
Die neuen Kleider der Regulierung…
Bei „NEST“ hat die Bundesnetzagentur, entgegen dem Vorgehen im Jahre 2015 mit einem aufwendigen Evaluierungsprozess, auf einen dezidiert wissenschaftlichen Ansatz verzichtet. Das aktuelle Eckpunktepapier der Behörde umfasst schlanke 23 Seiten, von denen sich ca. die Hälfte in Thesenform mit einzelnen Punkten und Vorschlägen der Umgestaltung des Regulierungsrahmens beschäftigt. Auch in dieser Kürze liefert das Papier wertvolle Impulse: Dass der Regulierungsansatz „one-size-fits-all“ für die unterschiedlichen Herausforderungen insbesondere mit Blick auf die Strom- und Gasnetze überdacht werden muss, erscheint beispielsweise richtig (und dafür hat es in der Tat wohl auch kein großes Gutachten gebraucht).
Maß nehmen auf Zuwachs
Im Folgenden möchte ich mich mit einem ganz wesentlichen Punkt auseinandersetzen, für den die Vorschläge des Eckpunktepapiers der Bundesnetzagentur aus meiner Sicht leider keine hinreichende und zufriedenstellende Antwort geben: Die durch die Energiewende massiv steigenden Betriebskosten.
Warum stellen steigende Betriebskosten eine Herausforderung für eine Anreizregulierung dar? Der eigentliche „Gag“ einer Anreizregulierung ist, dass es ein vorgegebenes Erlösbudget gibt und Kostenänderungen innerhalb einer Regulierungsperiode nicht über die Anpassung dieser vordefinierten Erlöse an die Kundschaft gewälzt werden können. Aus diesem „Budgetprinzip“ bzw. „Kostenwälzungsstopp“ sollen die Effizienzanreize entstehen, die der Anreizregulierung ihren Namen geben: Die Entkopplung von genehmigten Erlösen und tatsächlicher Kostenentwicklung gibt dem Netzbetreiber Anreize, die Kosten effizient zu gestalten. Nur von Zeit zu Zeit werden die Erlöse mit Blick auf die Kostenentwicklung angepasst. In der Zwischenzeit sind Kostenänderungen unmittelbar ergebniswirksam. In der konkreten Ausgestaltung der Anreizregulierung in Deutschland bedeutet das bei einer fünfjährigen Regulierungsperiode, dass wachsende Betriebskosten erst bis zu sieben Jahren später in den regulatorisch genehmigten Erlösen anerkannt werden.
Zum Verständnis der sieben Jahre Verzögerung bei fünfjährigen Regulierungsperioden kurz ein Blick auf ein Praxisbeispiel bzw. den konkreten Praxisablauf: Im Basisjahr Strom 2016 wurden die Betriebskosten aufgenommen, die 2017 und 2018 dann von der Bundesnetzagentur geprüft wurden. Von 2019 bis 2023 basierten die Netzentgelte auf diesen Betriebskosten. Eine Kostenänderung im Jahr 2017 wird in diesem Rhythmus erst vom nächsten Basisjahr 2021 erfasst und damit erst ab 2024, also sieben Jahre später, in den Erlösen wirksam. Und das heißt auch, dass die Netzentgelte 2023 auf Kosten beruhen, die aus dem Jahr 2016 stammen und damit sieben Jahre alt sind. Und wenn man kurz reflektiert, was in der Energiewende zwischen 2016 und 2023 so passiert ist, bekommt man einen ersten Eindruck, warum die Netzbetreiber den heutigen Regulierungsrahmen für den den enormen Investitions- und Wachstumszyklus der Energiewende als nicht passend ansehen.
Eben weil diese sieben Jahre Verzug ein echtes Problem sind, wurde er für die Kapitalkosten 2016 abgeschafft – seit damals werden die Netzentgelte jährlich für die Veränderungen in den Kapitalkosten, d. h. insbesondere die erfolgten Netzinvestitionen, angepasst. Für die Betriebs-, Personal- und sonstigen Kosten besteht der Verzug von sieben Jahren fort und damit ist die rechtzeitige Refinanzierung bislang nicht gelöst.
Eng, aber hoffentlich warm
Auch ohne die Kosteneffekte der höchst dynamischen Energiewende ist über sieben Jahre schon die allgemeine Inflation ein Thema für die Netzbetreiber. Daher werden die Erlöse auch jährlich mit der Inflationsrate angepasst. Damit es den Netzbetreibern in der Anreizregulierung nicht zu wohlig wird, wird zusätzlich noch ein erlössenkender Produktivitätsfortschritt unterstellt, den die Netzbetreiber über den Produktivitätsfortschritt der Gesamtwirtschaft hinaus(!) zu erbringen haben und der ihnen gleich von den Erlösen abgezogen wird, der sog. allgemeine Produktivitätsfaktor oder im Branchenjargon Xgen. Wird beispielsweise ein kostensenkender Produktivitätsfortschritt von einem Prozent angenommen und beträgt die Inflation 2 %, dann darf der Netzbetreiber seine Erlöse um 1 % anheben. Die Fortschreibung der regulierten Erlöse mit der Inflationsrate und dem eingeforderten Produktivitätsfortschritt bildet also die allgemein aus der Inflation zu erwartenden Kostenänderungen und die konkret eingeforderten Kostensenkungen während der Regulierungsperiode erlösseitig für die im Basisjahr bestehende Versorgungsaufgabe ab.
Was aber ist mit Kostenänderungen aufgrund der Veränderung der Aufgabe? Unbestreitbar hat über die letzten Jahre die sich stark mit der Energiewende verändernde Versorgungsaufgabe Kostensteigerungen bei den Netzbetreibern zur Folge gehabt. Die gestiegenen bzw. weiter stark steigenden Anschlusszahlen von volatilen Einspeisern und Lasten wie PV- und Windanlagen, Wärmepumpen, Speichern und Ladesäulen machen das deutlich. Dieses neue und wachsende Massengeschäft muss nicht nur angeschlossen, betreut und abgerechnet werden, es hat auch Folgen für Planung, Bau und Steuerung der Netze.
Dass die Betriebskosten mit diesen Veränderungen stark steigen, wird auch von der Bundesnetzagentur nicht in Frage gestellt. Nach den Ausführungen der Behörde sind sowohl die Mitarbeiteräquivalente als auch die (von der Behörde geprüften bzw. akzeptierten) Betriebskosten der Stromverteilnetzbetreiber zwischen dem Basisjahr 2016 und dem Basisjahr 2021 um knapp 25 % gestiegen. Über den Inflationsausgleich und die von den Netzbetreibern eingeforderten Produktivitätssteigerungen wurden die Erlöse der Netzbetreiber aber nur um ca. ein Sechstel dieses Betrages angepasst. Bleibt im Ergebnis allein im Jahr 2021 eine Steigerung von etwas mehr als 21 % bei den Betriebskosten, die von den Netzbetreibern zu tragen waren.
Wohlgemerkt: Das ist die Praxissicht der Bundesnetzagentur auf die von ihr geprüften Zahlen der Netzbetreiber für den Vergleich der Vergangenheit der Jahre 2021 und 2016 – mit Blick auf die Zukunft muss man feststellen: Die Energiewende als Massengeschäft in der Ausrüstung mit Dach-PV, Wärmepumpen und Wallboxen beginnt ja erst; wir steigen gerade erst in den steilen Pfad der exponentiellen Wachstumskurve ein. Und im Netzausbau liegen noch ganz andere Herausforderungen vor uns, wenn wir an die großen PV-Parks, den Windzubau und auch die Großbatterien denken – das sind im Schwerpunkt zwar erst einmal Investitionen, aber jedes neue Umspannwerk und jede neue Leitung muss auch gewartet („betrieben“) werden.
Kurze Hosen wärmen nicht
Den Handlungsbedarf für eine schnellere Anpassung von Kostenänderungen in einem zunehmend dynamischen Umfeld sieht entsprechend auch die Bundesnetzagentur. Sie schlägt als Lösungsbeitrag eine Verkürzung der Regulierungsperiode von fünf auf drei Jahre vor. Dies stellt nach Aussage der Behörde einen Kompromiss zwischen schnellerer erlösseitiger Abbildung der steigenden Betriebskosten und dem Erhalt von Effizienzanreizen dar.
Eine gute Regulierung beinhaltet zunächst die Suche nach dem richtigen wissenschaftlichen Ansatz. Mir ist klar: Wenn Wissenschaft auf Realität trifft, müssen auch Kompromisse gemacht werden. Die Verkürzung stellt aus meiner Sicht aber keine wirkliche Lösung für das Problem des Aufwuchses bei den Betriebskosten dar. Der Zeitversatz würde sich lediglich von sieben Jahren auf fünf Jahre verkürzen. Das ist natürlich eine Verbesserung, aber eben keine Lösung der langfristigen Finanzierung des Netzausbaus, insbesondere wenn man erwartet, dass die Dynamik in der Energiewende deutlich zunehmen wird (und „NEST“ hat ja das Ziel, gerade für diese Dynamik gute Lösungen zu finden).
Stretch als Stoff der Wahl
Die Verkürzung der Regulierungsperiode geht sowohl für Netzbetreiber als auch für die Behörden mit einem deutlich steigenden Verwaltungs- und Prüfaufwand einher. Ohne weitere pauschalierende Anpassungen bei der Kostenbestimmung und -prüfung wird das nicht möglich sein, was zusätzliche Chancen und Risikofelder bzw. – regulierungspraktisch gedacht – oft eben Probleme mit sich bringt. Um es ökonomisch auszudrücken: Es stellt sich die Frage, ob der Nutzen eines nur begrenzten Auffangens starker operativer Kostenaufwüchse den steigenden Verwaltungsaufwand rechtfertigt bzw. ob dieser oder ein vergleichbarer Nutzen nicht auch einfacher zu erreichen wäre? Ist das wirklich die beste Lösung?
Zumal bessere Instrumente im System der deutschen Anreizregulierung schon etabliert und verfügbar sind, um Betriebskostenänderungen innerhalb der Regulierungsperiode zu adressieren. Und sie werden auch schon genutzt – nämlich die bereits erwähnte Kostenanpassung um Inflationsrate und Produktivitätsfaktor. Denn genau das ist der Sinn von Inflationsanpassung und Produktivitätsfaktor in der Regulierung: Akzeptierte Kostenänderungen im Netzbetrieb während der Regulierungsperiode auf die Erlöse zu wälzen, ohne dabei auf die eigenen aktuellen Kosten des Netzbetreibers zurückzugreifen, um so die Anreize für effizientes Wirtschaften nicht zu unterminieren.
Wie ich an anderer Stelle bereits erläutert habe (Artikel "Die unsichtbare Hand würde einen OPEX-Xgen einführen") müsste dieses Instrument nur konzeptionell und wissenschaftlich richtig auf die Regulierung der Erlösobergrenzen angepasst werden. Dies ginge, indem man nicht die durchschnittlichen Kosten, sondern die Entwicklung der von der Bundesnetzagentur genehmigten Gesamtbetriebskosten aus der Vergangenheit in die Zukunft fortschreibt. Das ist nicht besonders kompliziert, die Daten sind alle vorhanden (und sogar behördlich geprüft). Der klassische Anreizhebel zur Kostendisziplin bliebe vollumfänglich erhalten.
Und wer hier Sorge hat, auf vergangenheitsbezogenen Daten die Zukunft zu modellieren, sollte sich kurz vor Augen führen, dass wir das dann auf sauberen Datensätzen in einem nachvollziehbaren Umfeld machen – die letzten Jahre hatten wir auch kein Problem damit, aus historischen Kosten- und Erlösdaten der Netzbetreiber eine Prognose für die zukünftig(!) zusätzlich(!) zur allgemeinen volkswirtschaftlichen Produktivitätssteigerung erreichbaren Produktivitätsfortschritte der Netzbetreiber festzulegen. Im Kern würde also der Produktivitätsfaktor für die Betriebskostenanpassung genutzt und das erscheint nur stimmig: Wenn sich die Aufgabe der Netzbetreiber um 10 % oder 20 % ausweitet, kann wohl niemand ein Absinken der Betriebskosten erwarten. Ein Anstieg um deutlich weniger als 10 % oder 20 % wäre dann schon Erfolg und herausforderndes Ziel, das man so im Produktivitätsfaktor hinterlegen könnte.
Der Xgen muss passen
Die Bundesnetzagentur hat eine deutliche Erweiterung ihres Handlungsspielraumes erhalten und den Auftrag, die Grundlagen der Energienetzregulierung in Deutschland auszugestalten. Hier liegt eine große Chance, die Herausforderungen der aktuellen Regulierung zum Wohl der Energiewende und des Klimaschutzes in den Griff zu bekommen. Den allgemeinen Produktivitätsfaktor zu nutzen, ist die logische und vor allem systemimmanente Lösung. Sie öffnet den Netzbetreibern die Möglichkeit, den dynamischen Herausforderungen der Energiewende besser zu begegnen.
Man müsste sich natürlich daran gewöhnen, dass der „Xgen“ nicht mehr ein Abschlag, sondern ein Zuschlag für die Netzkosten darstellt. Aber nur so würde er seine Funktion eines realistischen Ziels für die Produktivitätssteigerung der Netzbetreiber behalten. Würde man ihn weiter ohne Blick auf die sich stetig ausweitenden Aufgaben der Netzbetreiber festlegen, würde er völlig zu einem pauschalen Netzentgeltabschlagsfaktor verkommen – aus „Xgen“ würde „Xab“. Und „ab“ wird die Energiewende nicht nach vorne bringen.
Dr. Christoph Müller
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