Welche Probleme mit dem EU Bidding Zone Review verbunden sind
25.11.2024 | Auch hier zu finden im Web
Welche Probleme mit dem EU Bidding Zone Review verbunden sind
Dr. Christoph Müller
Veröffentlicht auf LinkedIn am 25.11.2024
Rede am 18.11.2024 auf der Veranstaltung „Transformation - Netzausbau - Bidding Zone Review“
Im gesetzlichen Rahmen des Clean Energy Package hat die ACER die europäischen TSO damit beauftragt, die aktuellen Gebotszonenkonfigurationen zu überprüfen. Diese Überprüfung, die als „EU Bidding Zone Review“ bezeichnet wird, ist nicht nur von großer Bedeutung für die Entwicklung unserer Energieversorgung, sondern auch für die europäische Wohlfahrt insgesamt. Und weil diese Frage so komplex wie entscheidend ist, möchte ich heute einige Gedanken mit Ihnen teilen.
Die Rahmenbedingungen für diese Analyse werden dabei von ACER in einem sehr engen Rahmen vorgegeben, insbesondere die zu untersuchenden Gebotszonenschnitte und die Bewertungsmethodik. Dabei werden verschiedene Indikatoren bewertet, wie etwa die Auswirkungen auf die Europäische Wohlfahrt oder die Liquidität im Stromhandel, um eine Aussage zu ggf. vorhandenen Vorteilen mehrerer Gebotszonen zu bekommen. Die Ergebnisse der Wohlfahrtsberechnungen werden dabei oft als entscheidendes Kriterium für eine Beibehaltung oder der Anpassung der aktuellen Gebotszonenkonfiguration angesehen. Nach aktuellem Zeitplan sollen Ende des Jahres konkrete Ergebnisse durch ENTSO-E veröffentlicht werden.
So weit, so vorgegeben, so technisch – aber auch so gut? Ich sehe bei der ganzen Übung Probleme im Kleinen, im Großen und im Praktischen.
Der methodische Ansatz berücksichtigt die Dynamik der Veränderungen nicht
Ein erstes Problem, das eigentlich ein kleines sein sollte, sind bereits die von ACER vorgegebenen Annahmen: Im aktuellen EU Bidding Zone Review wird eine Vorausschau des Marktes und des Netzes 2025 zugrunde gelegt. Da dieser Prozess schon eine ganze Weile läuft, wird dabei auf Basis der Daten des Jahres 2020 gearbeitet. Auf dieser Basis – mit den Daten von 2020 für das Jahr 2025 prognostizierend – sollen Aussagen für zukünftige Auswirkungen eines Gebotszonensplits getroffen werden. Dieser wird aber rein operativ erst wesentlich später implementiert werden können. Zwischen Beginn der Diskussionen um die Gebotszonen und heute ist einiges passiert in der Energiewirtschaft. Die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine haben nicht nur die deutsche Energiewirtschaft auf den Kopf gestellt. Stark beschleunigte Genehmigungsverfahren, konkrete Fortschritte im Netzausbau, Veränderungen in der Erzeugungslandschaft oder Lastentwicklungen sind nicht somit berücksichtigt.
Und dieses Problem des Nachlaufs wird noch einmal verschärft, wenn man an die Umsetzung denkt: Wir würden wahrscheinlich vier oder fünf Jahre für die Umsetzung eines Gebotszonensplits brauchen. Das heißt, wir unterstellen, dass die Ergebnisse auf Basis einer 2020er Vorausschau auf das Jahr 2025 dann noch Relevanz für ein hoffentlich richtiges Vorgehen im Jahr 2030 haben werden. Mir ist klar, dass ein gewisser Zeitverzug unvermeidbar ist. Aber unser Bild von der Zukunft des europäischen Stromnetzes ist doch deutlich konkreter als ein Blick in den Rückspiegel: Wieso machen wir uns nicht die verfügbaren Prognosedaten bzw. die Ist-Daten zunutze? Schon im Bau befindliche oder konkret beauftragte Leitungen könnten dann auch ohne Glaskugel als Netzentwicklung vorausgesetzt werden.
Der wesentliche Treiber für positive Wohlfahrtseffekte ist die Reduzierung von Redispatchkosten. Mit dem schon erwähnten beobachtbar stark vorangeschrittenen und 2030 fertiggestellten Netzausbau wird die Analyse auf Basis der Daten von 2020 falsch sein. Noch einmal: Die der Analyse zugrunde liegenden Annahmen sind sicher falsch, denn die Bautrupps sind unterwegs. Rein von der zeitlichen Taktung greift das alles nicht ineinander. Natürlich werden wir bei Amprion den Anforderungen des Prozesses des EU Bidding Zone Review nachkommen. Aber glücklich sind wir über den methodischen Ansatz und den kurzfristigen Betrachtungshorizont dieser Analyse nicht. Wir müssen noch einmal überlegen, wie man die aktuell vorhandene Dynamik besser berücksichtigen kann. Ukraine, Energiewende, Netzausbau – man muss damit in der Analyse proaktiver umgehen.
Die Frage der Gebotszonen ist keine technische, sondern eine politische Frage
Das sind nur die kleinen Probleme … Kommen wir zu den großen: Bei jeder theoretisch betrachteten Einführung von zusätzlichen Gebotszonen wird ein positiver volkswirtschaftlicher Nutzen herauskommen. Wenn Sie die Niederlande teilen, wenn Sie Frankreich teilen – Sie werden aus den theoretischen Modellen immer einen positiven Nutzen angezeigt bekommen. Nicht zuletzt, weil sich die Erzeugungsstruktur mit dem Weg zur Klimaneutralität deutlich verändert hat. Sollte jemals in der Zeit der nationalen Stromwirtschaften der Kraftwerkspark und das Transportnetz von einem weitblickenden Monopolingenieur integriert optimal konzipiert worden sein – und das an sich ist ja eine sehr starke Annahme –, so ist dieses Optimum mit Energiewende und Binnenmarkt sicher hinfällig. Eine Anpassung der Gebotszonen wird immer einen positiven Wert zeigen. Positive Effekte größerer Gebotszonen finden zu wenig Berücksichtigung. Das sind der Marktzugang zu Offshore für Industriekunden und sich daraus ergebende Investitionsanreize sowie die sich aus tieferer Marktliquidität ergebenden Möglichkeiten in der energiewirtschaftlichen Optimierung und im Risikomanagement.
Die entscheidende Frage ist: Wie groß soll denn dieser positive Wohlfahrteffekt sein, damit wir zum Schnitt bzw. Neuzuschnitt schreiten? Wann ist der Nutzen so groß, dass aus Sicht von ACER der Beleg geliefert wurde, dass die Gebotszone geteilt werden muss?
Genau hier sehe ich ein Problem: Diese Frage ist noch nicht diskutiert worden. Und das ist eine politische Frage. Wer entscheidet das? ACER? Nur vordergründig ist das eine technische Frage. Tatsächlich geht es um den Lastenausgleich bzw. die Kostenverteilung im Rahmen der Organisation des Energiesystems. Hier kommt man zu einer einfachen Erkenntnis: Excel gibt einem keine Antworten, sondern liefert nur Zahlen. Und diese Zahlen sind scheingenau. Nicht nur wegen des Zeitverzugs, auch weil die Kosten und negativen Effekte des Schnitts nicht berücksichtigt werden. Wir werden bei aller Analyse und allen ökonomischen Theorien nicht um eine politische Entscheidung herumkommen: Welchen Vorteil wollen wir mindestens sehen? Wie berücksichtigen wir praktische Kosten und Nachteile eines Gebotszonensplits?
Ohne Smart-Meter-Rollout und stabile IT-Prozesse ist ein Gebotszonensplit nicht umzusetzen
Und damit komme ich zu den ganz praktischen Problemen. Und da wir aktuell sehr fokussiert über einen deutschen Gebotszonensplit reden, sind das natürlich nationale praktische Probleme. Insofern schon einmal schöne Grüße aus dem Maschinenraum der deutschen Energiewende. Im deutschen Strommarkt haben wir gerade ganz andere operative Probleme und Sorgen als den Bidding Zone Review: Im Smart Meter Rollout sind wir ganz hinten und müssen dafür noch die gesamte IT-Infrastruktur ertüchtigen. Das hat insofern Relevanz, weil alle volkswirtschaftlichen Vorteile eines Gebotszonensplits eine gewisse Nachfrageflexibilität in Bezug auf die sich neu ergebenden Preissignale unterstellen. Dazu braucht es in Deutschland aber noch sehr viel mehr Smart Meter inklusive Steuerboxen und den Aufbau einer stabilen und IT-seitig voll unterstützten Prozesskette. Nur so lassen sich die dezentralen Flexibilitäten aus Wärmepumpen, Wallboxen und Batterien über die verschiedenen Marktrollen Netzbetreiber, Lieferant, Messstellenbetreiber, ggf. Aggregator und natürlich Kunde hinweg nutzen. Hier schlummern aus meiner Sicht viel größere volkswirtschaftliche Nutzenpotenziale! Der operative Kanal ist also reichlich voll. Wir werden erleben, dass aufgrund dieser operativen Vorbelegung die Umsetzung eines Gebotszonensplits in den IT-Systemen von 900 Verteilnetzbetreibern, 1200 Lieferanten und noch einmal so vielen Messtellenbetreibern nichts ist, was schnell geschieht.
Die deutsche Perspektive: Der Gebotszonensplit wäre unsolidarisch
Auch wenn es aus europäischer Sicht kein wirkliches Argument sein kann, will ich auf einen weiteren deutschen Praxispunkt hinweisen: In Deutschland gehen wir den Weg der Energiewende im Großen und Ganzen solidarisch. Die EEG-Förderungen zum Beispiel sind über all die Jahre solidarisch bundesweit in gleicher Weise getragen worden. Im Süden mit weniger Wind wurde die gleiche EEG-Umlage gezahlt wie im windreichen Norden. Als infolge des starken Erneuerbaren-Zubaus die Verwerfungen im Übertragungsnetz als zu heftig angesehen wurden, hat die Bundesregierung das bundeseinheitliche Übertragungsnetzentgelt eingeführt. Da passt es nicht ins Bild, jetzt an einer Stelle den Weg der Entsolidarisierung zu beschreiten. Damit riskieren wir, dass der Grundkonsens der solidarisch getragenen Energiewende kippt. Sie mögen jetzt anführen, dass es doch auch in Deutschland namhafte Stimmen aus der volkswirtschaftlichen Theorie gibt, die sich für eine Aufgabe der deutschen Einheitspreiszone einsetzen. Und dass sich dafür gerade Politikerinnen und Politiker aus den nord- und ostdeutschen Bundesländern einsetzen. Die Aufgabe dieser Solidarität wird also auch Deutschland-intern gefordert. Das stimmt. Es ändert aber nichts daran, dass wir in der Energiewende bisher weitgehend solidarisch vorangegangen sind. Ich sehe es als gefährlich an, diesen Grundkonsens anzugreifen. Lassen Sie mich also vor diesem Hintergrund zum Abschluss in ein paar sehr deutsche Perspektiven der Preiszonendebatte einsteigen.
Um Allokationssignale zu setzen, gibt es andere Wege als den Gebotszonensplit
Worum geht es gerade den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in ihrer Argumentation für mehr Preiszonen in Deutschland? Um Allokationssignale. Richtige und klare Allokationssignale machen alles besser. Und darum diskutieren wir bei dem Preiszonensplit einen operativ recht komplizierten und aufwendigen Ansatz für diese neuen Allokationssignale, eben unterschiedliche Strompreise in den verschiedenen Gebotszonen. Der Wunsch bzw. die Erwartung ist, dass diese Preise dann zeigen, dass der Zubau von erneuerbarer Erzeugung regional differenziert geschehen sollte. Lieber ein Windrad weniger im Norden und ein Windrad mehr im Süden. Lieber einen Elektrolyseur mehr im Norden und einen weniger im Süden. Ich hatte schon erläutert, dass die praktische Umsetzung dieser rein theoretisch unschlagbaren Lösung Jahre dauert. Eine Lösung, die weniger schön, weniger perfekt, aber dafür „morgen“ umgesetzt werden könnte und die hier schon einen deutlichen Unterschied machen würde, sind regional differenzierte Baukostenzuschüsse – und diese auch für Einspeiser. So ein Baukostenzuschuss hätte eine unmittelbare Auswirkung auf den Ausbau des Übertragungsnetzes. Ein weiteres Windrad im Norden bringt nochmal mehr Netzausbau und ein weiteres Windrad bzw. eine weitere Erzeugungsanlage im Süden spart Netzausbau. Müssten auf dieser Kostenwirkung basierende Baukostenzuschüsse gezahlt werden, wäre eine Steuerungswirkung da. Wir diskutieren diesen Ansatz in Deutschland aber nicht, denn er ist gesetzlich untersagt – es darf keine Baukostenzuschüsse für Netznutzer aus dem Bereich der erneuerbaren Energien geben. Rein sachlich gibt es für dieses Verbot keinen Grund – man muss sich halt nur dem Thema nähern, dass mit der fortschreitenden Normalisierung einer Erneuerbaren-Energiewirtschaft auch die Privilegien für erneuerbare Energien abgeschafft werden müssen. Privilegien, die eingeführt wurden, um den Start der erneuerbaren Energien zu fördern, um ihre Systemintegration zu unterstützen, um – wenn Sie so wollen – Welpenschutz in einer bösen klassisch-konventionellen Energiewelt zu bieten. Aber die Erneuerbaren sind keine Welpen mehr und müssen jetzt in ihre Verantwortung für Systemstabilität und Versorgungssicherheit hineinwachsen.
Im Kern geht es um eine Umverteilungsdebatte. Wir müssen sie führen
Und vielleicht nähern wir uns aus dieser deutschen Perspektive auch dem eigentlichen Kern der Debatte. In Deutschland – und wahrscheinlich bringt das die Energiewende in jedem europäischen Land mit sich – stehen wir vor einer brutalen Umverteilungsdebatte. Und diese Debatte müssen wir führen. Ich möchte Ihnen zwei Beispiele nennen, die den Handlungsdruck deutlich macht:
Der Einfamilienhaus-Eigentümer, der eine Photovoltaikanlage mit Batterie installiert, wird vor allem darüber seinen Strombedarf decken und künftig kaum noch Netzentgelte zahlen. Das Netz steht ihm aber weiterhin zur Verfügung: An dunklen nebligen Wintertagen wird er es wie immer nutzen können. Der Mieter im Mehrfamilienhaus dagegen kann allenfalls einen Bruchteil seines eigenen Bedarfs über ein Balkonkraftwerk abdecken, sofern er überhaupt einen Balkon hat. Er finanziert das Netz voll mit. Das erscheint mir unsolidarisch.
Die Industrie in Deutschland kämpft gerade sehr stark für den Erhalt ihrer Netzentgeltprivilegien aus dem §19 (2) StromNEV. Ich verstehe das. Amprion hat als einziger deutscher Übertragungsnetzbetreiber tatsächlich auch eine wirklich nennenswerte Anzahl direkt angeschlossener Industriekunden. Wir wissen um die Probleme unserer Kunden. Wir sehen die Notwendigkeit, hier etwas zu tun. Nur: Dass, was die Industrie nicht für das Netz zahlt, zahlen andere Kundengruppen mehr – eine klassische Umverteilungsdebatte.
Ich will Sie nicht mit weiteren Beispielen langweilen, es gäbe im deutschen Kontext wirklich viele. Der gerade eingeführte Lastenausgleich für besonders von der Energiewende betroffenen Netzbetreiber ist, auch wenn es sich so schön fair anhört, im Nebeneffekt tatsächlich auch eine massive Umverteilung zugunsten der Industrie und zulasten der Haushaltskunden. Auch das einheitliche deutsche Übertragungsnetzentgelt wirkt in den unterlagerten Spannungsebenen gar nicht einheitlich: Haushalte in Ballungsräumen zahlen tendenziell mehr für das Übertragungsnetz als Haushalte im ländlichen Raum.
Um es auf eine europäische Ebene zu heben: Die Energiewende wird überall spürbar, auch in der Frage der fairen Kostenverteilung, tatsächlich auch auf allen Ebenen – lokal, regional, national und europäisch. Wir müssen diese Umverteilungsdebatte führen, die Veränderungen durch die Energiewende sind zu groß. Und „fair“ ist bei der Frage von Kostenverteilungen ein sehr dehnbarer und zu definierender Begriff. Die Effekte sind mannigfaltig und komplex. Und ich kann verstehen, dass mit ausstrahlenden Preiseffekten des deutschen Marktes und Loopflows auch die Nachbarstaaten sehr genau hinsehen, welche Effekte sich hier ergeben. Aber das bedeutet auch: Der EU Bidding Zone Review ist ein sehr theoretisch-akademischer Analyseprozess, der um praktische Fragen erweitert werden muss. Vordergründig geht es bei der Analyse um volkswirtschaftliche/technische Fragen. Tatsächlich ist das auch eine Umverteilungsdebatte und damit eine politische Frage.
Umverteilungsdebatten sind nie schön. Insofern sollten wir uns darum bemühen, zumindest ihr Umfeld schön zu gestalten, wie zum Beispiel heute Abend hier in der Bayerischen Landesvertretung. Und Vieles diskutiert sich besser mit einem Hellen und gutem Essen. Ich danke dem Freistaat Bayern für die Einladung und freue mich auf die Diskussion mit Ihnen.
Dr. Christoph Müller
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